Kurzgeschichte

Von Herzen



"Ich kann den Himmel berühren", murmelte Rebecca mit ausgestrecktem Arm.

Einen Himmel wie auf dem Gemälde eines alten Meisters, mit Farben, die kein irdischer Himmel je hätte schaffen können; blutrote Wolkenberge, schwarz gerändert vor einem zimtfarbenen Firmament. Keine Sonne. Hier gab es keine Sonne.

Marcs Hand schloss sich um Rebeccas Finger. Sie ließ den Arm sinken und legte den Kopf an seine Brust, lauschte selbstvergessen dem Schlagen seines Herzens, kräftig und gleichmäßig wie ein Uhrwerk. Die Zeit gerann, hielt inne in einem perfekten Moment der Ewigkeit.

Wasser schwappte in winzigen Wellen ans Ufer des dunklen, breiten Flusses. Sie war schon oft hier gewesen. An diesem seltsamen Ort, wo sich die Liebenden aller Zeiten wieder fanden, erinnerte sie sich erneut. Erinnerte sich an den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, Sterben und Wiedergeburt. Und an ihn - Geliebter, Freund, Gefährte so vieler vergangener Leben.

Nebel kräuselte sich über dem Fluss. Ein leises Wogen im Schilf, ein Plätschern, als ein Kahn anlegte, ein Stab aus dem Wasser gezogen wurde.

In Marcs Blick spiegelte sich Wehmut. "Es ist an der Zeit."

"Warum kann ich nicht mit dir kommen?", fragte Rebecca bekümmert.

Marc wies mit dem Kopf auf die schemenhafte Gestalt des Fährmanns; eine stumme Mahnung an die Säumigen. "Er nimmt nur einen von uns mit."

"Aber ich will nicht wieder zurück. Nicht ohne dich!"

"Ich werde immer bei dir sein. Mein Herz gehört dir, das weißt du."

"Werde ich mich an dich erinnern?"

Marc sah sie traurig an, in seinen Augen glitzerte Abschied. "Geh jetzt. Und sieh nicht zurück!"

Er küsste sie ein letztes Mal, dann ging er dem Fährmann entgegen.

*


Sie trieb empor wie aus tiefem, dunklem Wasser. Je mehr Rebecca sich der Oberfläche näherte, desto klarer wurden Formen, Geräusche, Gerüche. Das Piepsen von Apparaten, der Geruch nach Desinfektionsmittel, ein ziehender Schmerz in ihrer Brust.

"Sehen Sie nur, Schwester, sie ist aufgewacht!" Eine Stimme, gedämpft durch einen Mundschutz. Ihre Mutter, die schon so oft an ihrem Bett gewacht hatte. "Nein, du solltest noch nicht sprechen, Becca. Es war eine schwere Operation. Aber jetzt wird alles wieder gut."

Rebecca hob schwerfällig den Arm. Eine Kanüle steckte in ihrem Handrücken, Schläuche führten von ihr fort. Eine Krankenschwester überprüfte eine Infusion.

"Du hast unglaubliches Glück gehabt, Becca", sagte ihre Mutter und strich ihr zärtlich über die Wange. "Die Ärzte hatten dich schon aufgegeben. Aber dann hat sich in letzter Sekunde ein passender Spender gefunden."

"Ein ... Spender?", hauchte Rebecca mit wunder Kehle.

"Ein junger Mann, Motorradunfall. Die Ärzte haben ihn nicht retten können. Ich wollte seinen Namen wissen, aber sie sagen ihn mir nicht."

Rebecca schloss die Augen und ließ die Hand auf ihren Brustkorb sinken. Dort, unter einer Schicht von Mull und Pflastern, konnte sie deutlich ihr neues Herz schlagen fühlen: badam, badam, badam. Stark und gesund, so gleichmäßig wie ein Uhrwerk.

Mein Herz gehört dir. Ich werde immer bei dir sein.

"Marc", flüsterte sie, während eine brennende Träne über ihr Gesicht lief. "Er hieß Marc."