Kurzgeschichte
Trudmars Geheimnis
Kloster Corvey, Februar Anno Domini 1046
Sei gegrüßt, geliebter Arbogast!
Jetzt, da meine Tage auf Erden sich dem Ende nähern, erinnere ich mich oft an die vergangenen
Zeiten. Alte Männer brauchen wenig Schlaf, und bevor ich die Augen zum letzten Mal schließe,
möchte ich Dir ein Geheimnis anvertrauen, so wie früher, als wir noch Kinder waren und uns die
Wälder rechts und links der Begenze wie eine Verheißung des Garten Edens erschienen.
Ich habe Dir nie erzählt, was sich wirklich zugetragen hat in jener Nacht, in der sich die
Wundertat des Heiligen Benedikt ereignete und um die heute jedes Kind weiß. Doch jetzt lass
mich mein Schweigen brechen. Denn wenn ich auch nie an der Größe Gottes und der Heiligen
zweifeln würde, so war es doch nicht unser heiliger Ordensgründer, der Kaiser Heinrich II von
seinem Leiden heilte. Nein, lieber Freund, ich war es.
Lass mich Dir von einer Winternacht kurz nach der Zeitenwende erzählen, als es dem
Allmächtigen gefiel, mich, Seinen unwürdigsten Diener, zu Seinem Werkzeug zu machen. Nach
meiner Novizenzeit weilte ich für einige Monate in der Abtei von Monte Cassino südlich von
Rom, um im Mutterkloster in der benediktinischen Heilkunst ausgebildet zu werden. Die
Gemeinschaft der Brüder trauerte, denn vor wenigen Tagen war der
infirmarius des Klosters, der
mich als seinen Gehilfen und Schüler aufgenommen hatte, an einem Fieber gestorben. Solange
es keinen Nachfolger für ihn gab, sollte ich weiter aus den alten Schriften lernen und seine
Aufgaben übernehmen. Und an diesem Abend würde ich mich erstmals bewähren müssen.
Es war eine kalte, zugige Nacht, als ich den mit Opium und Bilsenkraut getränkten Schwamm
über Nase und Mund des Kranken legte. Ich war ein junger Mönch, wissbegierig und ehrgeizig,
doch in jener Stunde wünschte ich mir nichts mehr, als selbst auf die Segnungen des Opiums
zurückgreifen zu können, das die Kranken schlummern ließ und ihnen neben den ärgsten
Schmerzen auch die Furcht nahm.
Ich könnte nicht sagen, wer in diesem Augenblick verzweifelter um göttlichen Beistand flehte:
der Kranke auf der hölzernen Pritsche in einem Nebenraum des
hospitiums, oder ich selbst, ein
kaum dem Novizenalter entwachsener Mönch, der gleich den ersten Steinschnitt seines Lebens
ausführen würde. Und das nicht etwa bei einem gewöhnlichen Kranken. Nein, der Mann, der
mich da aus blutunterlaufenen Augen angstvoll ansah, war niemand anderes als Heinrich II,
Herzog von Bayern und zukünftiger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.
Heinrich war in Begleitung seiner Gemahlin Kunigunde als Pilger nach Monte Cassino
gekommen, um den Heiligen Benedikt um Heilung für sein langjähriges Steinleiden anzuflehen,
als ihn ein heftiger Rückfall zwang, in unserem
hospitium Obdach und Hilfe zu suchen. Von
Fieber und Schmerzen geschüttelt, war der Herzog dem Tode bereits näher als dem Leben. Der
Rat der älteren Brüder hatte auf das Flehen Kundigundes hin beschlossen, den Eingriff zu
wagen, und mir als Gehilfen des verstorbenen
infirmarius oblag es nun, den heilenden Schnitt
vorzunehmen – oder Heinrich damit zu töten.
Von der Torheit der Jugend und dem glühenden Wunsch nach Anerkennung geblendet, hatte ich
es bislang kaum erwarten können, mein dürftiges Wissen zu beweisen, das kaum über die
Anwendung von Aderlass und Brenneisen hinausging. Doch wie sehr bereute ich diesen Wunsch
jetzt, da ich den opiumgetränkten Schwamm von Heinrichs Gesicht nahm und zusah, wie man
ihn wie eine Frau, die gebären will, bettete.
Der Herzog bedachte mich mit einem verschleierten Blick. "Benedikt", kam es kaum
verständlich über seine aufgesprungenen Lippen. "Heiliger Benedikt, erbarme dich meiner!"
Dann kippte sein Kopf zur Seite.
Mein Blick traf den Kundigundes, die mein Tun von der Tür her beobachtete. Jetzt neigte sie
entschlossen das schöne Haupt. Ich packte das Messer mit festem Griff, um mir das Zittern
meiner Hände nicht anmerken zu lassen, empfahl meine sündige Seele der Gnade des Herrn
und begann mein blutiges Werk.
Dank der Droge brauchte es nur zwei Brüder, um Heinrich zu halten, als ich meine Ohren vor
seinen Seufzern verschloss und tief in ihn schnitt, bis ich in seinem Innersten einen harten,
rauen Stein fand, fast so groß wie ein Hühnerei. Ich zog ihn heraus, legte den blutigen Stein in
Heinrichs Hand und vernähte die Wunde, dann überließ ich den Herzog der Obhut seines Weibes
und der anderen Brüder und flüchtete mich zitternd ins
dormitorium.
Den Rest der Nacht lag ich wach, geschüttelt von der entsetzlichen Furcht, Heinrich mit meiner
Stümperei umgebracht zu haben. Doch Gott hatte Erbarmen. Heinrich überlebte den Eingriff,
und in den nächsten Tagen verbreitete sich die Nachricht von einer Wundertat im Kloster:
Nachts sei der Heilige Benedikt dem Herzog erschienen, habe einen tiefen Schlaf über ihn
gesenkt und ihm einen Blasenstein herausgeschnitten, den man als Beweis für das Wunder
sogleich zum Abt gebracht habe.
Hatte das Opium Heinrichs Sinne so weit betäubt, dass es ihm auch die Erinnerung nahm? Nun,
ich denke, er ahnte, was ihm wirklich in jener Nacht widerfahren war, wenn auch keiner der
Brüder Heinrichs Schilderung widersprach.
Was danach geschah, ist bekannt. Der Ruf der wundersamen Heilung eilte Heinrich voraus und
verhalf ihm in den folgenden Jahren zu Ruhm und Ehre und schließlich zur Kaiserkrone – wenn
auch nicht zu Nachkommen, denn nach dem Schnitt konnte Heinrich keine Kinder mehr zeugen.
Doch das kaiserliche Paar hatte den jungen Mönch, der Heinrich vom Stein befreite, nicht
vergessen, denn ein gutes Jahrzehnt später ernannte man mich zum Abt des Klosters Corvey im
Wesertal.
An dieser Stelle möchte ich enden. Heinrich und Kunigunde sind schon lange von uns gegangen,
und auch ich werde meine Augen bald für immer schließen. Die Kerze, bei deren Licht ich diese
letzten Zeilen schreibe, ist fast heruntergebrannt, und in der Hoffnung, dereinst Gnade vor dem
Herrn zu finden, sage ich Dir nun Lebewohl.
Gottes Segen mit Dir
Es grüßt Dich
Dein treuer Freund
Trudmar, Abt von Corvey